Das Thema „Geschwisterkinder – wie geht es Euch?“ lockte in diesem Jahr eine Rekordzahl von 130 Teilnehmenden in den vollen Hörsaal der HSLU. Mehr als 30 Kinder mit und ohne Behinderung besuchten das kostenlose Hortangebot, während die Eltern sich austauschen konnten.
Sandra Niederberger vom Verein „Luniq“ eröffnete das 6. Elternforum Zentralschweiz. An der von zehn regionalen Behindertenorganisationen ausgerichteten Veranstaltungwurde am Samstag über das Leben von Kindern, die mit einem oder mehreren behinderten Geschwistern aufwachsen, gesprochen. Dozentin Judith Adler gab hierzu den fachlichen Impuls und stellte Ergebnisse einer HSLU-Studie vor, die mit Fragebögen und Interviews die Situation von Geschwisterkindern untersucht. Im Anschluss gab es beim Apéro für die Familien auch in diesem Jahr noch die Gelegenheit, mit anderen Betroffenen und Fachpersonen zu sprechen und sich zu vernetzen.
Die Veranstaltung zeigte wenig überraschend auf, dass Geschwister von behinderten Menschen stärker als andere Kinder im Familien- und im Gesellschaftsalltag grossen Belastungen ausgesetzt sind: sie nehmen sich zurück, um die Eltern zu schonen, die mit der Pflege des behinderten Kindes überfordert sind; sie müssen schnell selbstständig werden und Konflikte im öffentlichen Raum für das behinderte Geschwister aushalten oder auch austragen; sie sind gestresst von dessen herausfordernden Verhaltensweisen, können weniger persönliche Freiräume pflegen, wenn sie zur Betreuung herangezogen werden und haben selten Aussicht auf die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern. Auf der anderen Seite bilden Geschwistern auch spezielle Ressourcen im Familienalltag: sie sind stolz, wenn sie dem Bruder oder der Schwester etwas beibringen und in stressigen Situationen ruhig bleiben können, erleben persönliche Erfolge, wenn sie selbst sich gegen Aussen für die behinderte Person einsetzen. Sie merken, dass sie im Familienalltag Empathie und soziales Verhalten erlernen können. Zum Teil sind für sie Familienaktivitäten, z. B. gemeinsame Ferien, in denen auch das behinderte Geschwister einbezogen wird, sehr intensiv und positiv. Entscheidend ist, dass die Balance zwischen Ressourcen und Belastungen gehalten wird. Ein Drittel aller Geschwisterkinder erlebt die Belastungen als hoch, hier ist Handlungsbedarf angezeigt. Es ist klare Kommunikation seitens Eltern nötig über die Erwartungen an das gesunde Kind, ausserdem braucht das Kind Nischen, in denen es uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Eltern erhält, sowie Orte und Personen ausserhalb der Familie, an denen es ganz sich selbst leben und spüren kann, z. B. in Vereinen, bei Hobbys, aber auch in Beratungsangeboten.
Auf dem Podium diskutierten unter der Moderation von Regula Späni sechs Direktbetroffene über ihre Situation. Lian Oetterli, der als Teenager mit zwei gesunden jüngeren Geschwistern und einem älteren Bruder mit Behinderung aufwächst, war früher oft eifersüchtig auf den Bruder. Mittlerweile hat er ausserhalb der Familie gute soziale Anlaufstellen und erlebt sich selbst als reflektierter, dadurch kann er den Bruder als Person wahrnehmen, mit der er gerne Zeit verbringt. Er wünscht sich eine bessere Einbindung von behinderten Menschen in die Gesellschaft, da dies auch den Familien gut tun würde.
Jahn Graf ist körperbehindert und berichtet, dass seine jüngere Schwester für ihn in frühen Jahren eine wichtige Beziehungspartnerin z. B. beim Spielen war, als er selbst noch wenig Freunde hatte. Sie setzte sich für ihn auch extern ein, z. B. in ihrer Schule. Jahn Grafs Eintritt in die Sonderschule ermöglichte einen Rollenwechsel. Er fand hier Freunde, die Schwester hatte Exklusivzeit mit den Eltern. Heute ist er selbst in der Rolle als älterer, oft beratender, Bruder angekommen.
Die wichtige Rolle von externen Entlastungs- und Förderungsstrukturen wurde von Vanessa Leuthold bestätigt, die mit CP lebt und einen älteren Bruder hat. Sie kann heute mit ihrem Bruder über ihre gemeinsame Kindheit und Jugend sprechen. Sie hatte früher öfters ein schlechtes Gewissen ihm gegenüber und freute sich stets für ihn, wenn er zum Beispiel mit den Eltern alleine zum Skifahren ging. Dieser spiegelt ihr heute zurück, dass sie ihm zu einem guten Sozialverhalten verholfen hat. Auch für ihn war es fördernd, dass er in der Tagesschulzeit seiner Schwester vermehrt eigenen Aktivitäten nachgehen konnte und zu Hause mehr Raum hatte.
Lydia Schwenderer ist Psychologin und mit fünf Geschwistern, darunter einer älteren stark behinderten Schwester, aufgewachsen. Ihren Alltag hat sie als Kind nicht als aussergewöhnlich wahrgenommen, denn „jede Familie ist anstrengend.“ Ihre Eltern haben versucht, Normalität herzustellen. Als Teenagerin kam sie aber in Erklärungsnot, wenn sie Kollegen erklären musste, warum sie auf die ältere Schwester aufpassen musste, statt in den Ausgang zu gehen. Wichtig war für sie und ihre Geschwister unter anderem der häufige Besuch von ambulanten Fachpersonen, z. B. Therapeutinnen, zu Hause. Diese schenkten auch den Geschwistern Aufmerksamkeit. Aus ihrer Sicht müssten Angebote gezielt für Geschwister ausgebaut werden.
Carla Mae Bucher ist Studentin und wuchs mit zwei Schwestern auf, eine davon mit Mehrfachbehinderung. Sie erlebte in ihrer Kindheit ihre jüngere Schwester nie als behindert, sondern als Schwester. Aus ihrer Sicht wurde die ganze Familie „von aussen behindert gemacht“. Sie redet bis heute nicht gern über die Behinderung ihrer Schwester, da es immer Erklären bedeutet und nie Austausch. Sie hätte sich Kontakte zu anderen Jugendlichen in ihrer Situation gewünscht. Als Heranwachsende hat ihr in der Rollenfindung geholfen, dass die Eltern Care-Tätigkeit für die Schwester jeweils klar abgesprochen und auch finanziell vergütet haben, sobald dies möglich war, im Assistenzmodell.
Karin von Moos ist Mutter von zwei Töchtern, die jüngere hat Trisomie 21. Sie empfindet ihre Familiensituation als normalen Alltag und erwartet von ihrer älteren Tochter nicht, in der Schule Verantwortung zu übernehmen für die jüngere Schwester. Auch sie erlebt die gesellschaftliche Schubladisierung als „behinderte Familie“ als sehr störend. Mitleid oder Romantisierung, der „Jö-Effekt“ nützt den Direktbetroffenen überhaupt nichts. Inklusion wäre der richtige Weg.
Konsens ist: innerhalb der Familien ist offene Kommunikation das A und O. Klare Absprachen über Erwartungen von Eltern und Geschwistern sowie offene Gespräche in der ganzen Familie sind für alle eine wichtige Voraussetzung, nicht zuletzt, wenn es um die langfristige Zukunftsplanung für das behinderte Geschwister geht. Können sich Bruder und Schwester vorstellen, später die Hauptverantwortung, z. B als Beistandspersonen, zu übernehmen? Nicht immer aber finden Familien, vor allem, die Eltern, dafür Zeit, Energie und Raum. Es ist wichtig, dass die Gesellschaft Verantwortung auch gegenüber den Geschwisterkindern übernimmt. Sie werden bisher zu wenig auf Beratungsangebote aufmerksam gemacht, die auch ihnen offenstehen würden, und können sich so schlecht austauschen, vernetzen und informieren. Aus dem Publikum kam der Input, dass Geschwisterkinder in gesellschaftlicher Hinsicht „Symptomtragende“ sind. Die Verantwortung für ihr Wohlergehen wird aber auf die Eltern geschoben. Hier ist insbesondere die Politik gefordert, rasch ins Handeln zu kommen.
Medienbericht Elternforum Zentralschweiz als PDF






